Die Gesichter einer Stadt lassen sich eindrucksvoll und am authentischsten in den Abendstunden und unter der Woche in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln ausmachen. Man sieht zu dieser Zeit sehr deutlich, woher die Menschen kommen und wohin sie gehen, ob sie von der Arbeit kommen, ob sie zur Arbeit fahren, ob sie zur Stadt gehören oder nicht.
Besonders spannend ist die Gruppe der-von-Arbeit-kommenden. Egal welcher Arbeit sie nachgehen, man entdeckt in Ihren Augen die gleichen Elemente. Man sieht in Ihren Gesichtern, einen ausdrucksleeren, starren Blick, quasi blind durch den Abend blickend, ohne Ziel in Ihren Augen, ohne Ausdruck – ohne Geist. Salopp gesprochen könnte (müsste) man sagen, „Die ziehen eine Fresse…“.
Eines Abends, mich selbst erblickend, mich spiegelnd in einer Bahnscheibe auf meinem Weg nach Hause, sah ich zum ersten mal mein eigenes ausdruckslose Gesicht, leer mich anschauend, hindurch schauend, weg schauend… Woher kommt dieses Gesicht, dieser Ausdruck, der nicht zu mir gehört, mir jedenfalls unbekannt scheint.
Mir kam eine Künstlerin in den Kopf, die von anderen Künstlern Fotos (Portraits) nach Ihren Auftritten macht und etwas ziemlich interessantes festgestellt hat: eine Art Zwischenzustand, ein Zwischengesicht. Bei Schauspielern, die nach getaner Arbeit ihre Rolle noch nicht ganz abgelegt haben, aber auch noch nicht ganz wieder der Privatmensch sind.
Dieser scheinbare Schwebezustand scheint nicht nur bei Künstlern zu beobachten zu sein, sondern auch bei „normalen“ Menschen. Die „Arbeitsrolle“ schon abgelegt, aber noch nicht ganz wieder der Privatmensch, schwebt er in einem Zustand völliger Rollenunzugehörigkeit.
Bei Künstlern und hierbei vor allem bei Schauspielern fällt die Rollenzugehörigkeit am deutlichsten auf. Man stelle sich Charlize Theron z.B. nach einem Arbeitstag zum Dreh des Films Monster vor. Scheinbar so tief in dieser Rolle verankert fällt es schwer, aus dieser abends einfach wieder raus zu kommen – die Rolle wird ein Teil von ihr. Heath Legder in der Rolle des Joker musste seine Rolle höchstwahrscheinlich sogar mit dem Tod bezahlen….
Was am Ende übrig bleibt sind die Gesichter einer Stadt, die abends durch die Straßen irren. Schwebende Geister die zurück zu Ihren Rollen eilen um Ihren Schwebezustand verlassen zu können.
Ich glaube das dieser Schwebezustand nur in einer nicht privaten Umgebung auftritt. Für mich als eingefleischten Autofahrer zum Beispiel trifft dieser Schwebezustand nicht zu. Nach der Arbeit setze ich mich in mein Auto, schalte das Radio ein, drehe voll auf und bin in dem Augenblick ganz ich selbst.
Wobei das allerdings etwas anderes ist, wenn ich mich nach der Arbeit zum Beispiel mit Ex-Kollegen oder Bekannten treffe. Dein Artikel zeigt wunderbar, dass der Mensch verschiedene Fassaden vor sich her trägt und der Wechsel zwischen den Fassaden, oder dem wirklichen Ich und einer Fassade ist der Punkt an dem man am verletzlichsten ist, weil, wie Du schon sagst, die Zugehörigkeit und Identifikation mit der Zwischenrolle fehlt.
Interessant wäre es zu erfahren, wie man selbst sich verändert, wenn man einmal bewusst eine zeitlang versucht mehr in diesem Schwebezustand als in seiner Rolle zu leben.